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12. 22. Juni 2003 |
10. Juli 2003 Der Tag der Begegnungen Es begann damit, dass beim Frühstück am Nebentisch zwei Frauen etwa in meinem Alter saßen, die das Jakobswegbuch dabei hatten. Wir kamen ins Gespräch. Sie wollten aber zurück nach Würmla und von dort aus weitergehen. Ich setzte meine Wanderung in Michelndorf fort. Da die Etappe nicht lang war, ließ ich mir unterwegs Zeit, machte immer wieder kleine Pausen. Als ich neben einem Wegkreuz hinter Langmannersdorf auf einer Bank saß, hielt neben mir eine Auto. Eine Frau stieg aus, fragte, ob ich auch auf dem Jakobsweg unterwegs sei. Ich erfuhr, dass sie aus der Gegend war und am Nachmittag mit einer Gruppe von Langmannersdorf nach Herzogenburg wandern wollte. Sie lud mich zum Heurigen ein und wollte mir dann eine ganz neue Karte der Region mitbringen, in der alle Wanderwege eingezeichnet wären. Die konnte ich gut gebrauchen. Im Wald traf ich einen Mann, mit dem ich ebenfalls ins Gespräch kam. An der nächsten Rastbank hielt die Frau von vorher wieder an und gab mir die Wanderkarte. Sie konnte nicht herausgeben, also musste ich am Abend zum Heurigen. In Herzogenburg hatte ich Zeit und konnte mir die Stadt
und sogar das Stift anschauen. Dann gings zum Heurigen. Die Gruppe, auf die ich wartete, kam. Ich wechselte an ihren Tisch, wurde als der Pilger vorgestellt. Sie waren sehr an meiner Wanderung interessiert, ich musste wieder einmal begründen, warum ich diese Wanderung unternommen habe, was ich für mich immer wieder gut finde, da ich es auch jedes Mal wieder für mich begründe. Es gab viele Nachfragen, viele eigene Gedanken, die hinzugefügt wurden. Ich fand es ein sehr gutes und anregendes Gespräch. Als ich gehen wollte, setzte sich der Mann der Kartenverkäuferin
zu mir und wollte wissen, ob ich nicht auch manchmal ein Gefühl der
Schuld empfinde. 11. Juli 2003 Gemeinschaft der Seligpreisungen Ich verließ Herzogenburg in Richtung Rottersdorf und stand plötzlich vor einem sowjetischen Soldatenfriedhof. Hier ruhen 241 Offiziere und Soldaten der Roten Armee, hieß es auf der zentralen Tafel. 18 Grabstellen waren es, eine davon etwas größer, eine ohne Grabstein und damit ohne roten Stern und ohne Namenstafel. Die Daten, die ich lesen konnte, sprachen von April und Mai 1945. Ich ging durch Neustift, einen kleinen Ort, der ausgestorben
wirkte, obwohl er es nicht war. Jetzt bin ich in Maria Langegg, einem Kloster. Ich komme gerade von einer Sabbat-Feier, da die Katholische Gemeinschaft der Seligpreisungen auch jüdische Elemente zu integrieren versucht. Sie feiern den Sabbat, sie begehen ihn aber nicht, wie mir Schwester Miriam in einer kleinen Einführung erklärte. Es wurde viel gesungen, auf Hebräisch, obwohl sie nicht Hebräisch sprechen. Fürbitten wurden gesprochen. Viel gedankt wurde, Gott wurde viel gedankt. Wein wurde geweiht. Der Wein wurde herumgereicht und getrunken, das Brot wurde herumgereicht und gegessen. In dieser Gemeinschaft leben Geweihte und Ungeweihte, also Priester, Nonnen, aber auch Ehepaare zusammen. 12. Juli 2003 Befreiungsversuch Ich bin Richtung Süden gegangen, sitze in einem Café
in Melk. Ich werde nicht hinaufsteigen zum Stift. Ich merke, ich muss
aufpassen, mich nicht zu verzetteln. Die Wanderung darf keine Kulturreise
werden. Ganz anders ihr Bruder Marco, der während der Sabbat-Feier neben mir saß. Wir sprachen ein paar Sätze während des anschließenden Essens miteinander. Dann kam die Frage, um die es ihm, wie es mir schien, eigentlich von Beginn unseres Gespräches gegangen war: Sind Sie gläubig? Nach meinem Gefühl eine zu persönliche Frage, die, nachdem wir gerade ein paar allgemeinere Sätze gesprochen hatten, über meine Grenzen ging. Die meisten Menschen, die ich in dieser Gemeinschaft gesehen habe, waren sehr jung. Sie schienen mir aber bereits so fertig zu sein, so ohne Fragen, ohne Zweifel. Fertig in einem leblosen Sinne. Ich mache Pause auf der Bank neben der kleinen Marienkapelle
unterhalb des Purzeller Hofes. Ich beobachte eine Wespe, die sich in einem
Spinnennetz unter dem vorspringenden Dach der Kapelle verfangen hat. Sie
versucht sich zu befreien. Ich überlege, ob ich ihr helfen oder ob
ich in den natürlichen Prozess nicht eingreifen soll. Wann ist Hilfe
angebracht? Wann wird nichts tun zu Gleichgültigkeit? Ich bin der Zuschauer, der interessiert dem Kampf des Opfers
zusieht, in diesem Netz, das die Täterin ausgelegt hat. Noch immer
könnte ich von meiner Bank aufstehen, das Netz zerschlagen und das
Opfer befreien. 13. Juli 2003 Schwarzmalerei? Als ich in Maria Taferl ankam, setzte ich mich auf eine Bank vor der Kirche. Mir gegenüber saß ein altes Ehepaar, daneben ein jüngerer Mann. Während ich einen Apfel aß und Wasser trank, bekam ich mit, dass sie auf die Sanitäter warteten. Ihm war wohl während des Gottesdienstes übel geworden. Sie war in großer Sorge. Immer wieder nahm sie seine Hand, streichelte seinen Arm, fasste ihn am Oberschenkel an. Hier war der Tod spürbar. Zwei Leben näherten sich ihrem Ende. Eines davon würde wahrscheinlich früher vorbei sein. Das hieße noch einmal Abschied nehmen, ein später Abschied, der den beiden Angst machte. Sie weinten. Die Sanitäter kamen. Und mit ihnen kam der Bruch in diese Szene. Nein, sie könnten ihn nicht mitnehmen, schließlich seien sie mit dem Auto da und er müsse nach Hause fahren. Oder war es nur eine andere Form, die Angst zu zeigen? Er wollte wohl so tun, als sei alles in Ordnung, das Leben sollte einfach weitergehen. Später kam ich an einer eingezäunten Weide vorbei.
Fünf Schafe lagen im Gras, eines davon war schwarz. Schafe haben
untereinander kein Problem mit schwarzen Artgenossen. Wir sondern schwarze
Schafe aus, machen sie zu Außenseitern, zu Menschen, die Schuld
haben, an was auch immer. Ein Grund findet sich. Und wenn sie gekennzeichnet
sind, so wie es die Juden mit den Sternen waren, dann weiß jeder,
gegen wen er sich wenden kann, gegen wen er ungestraft vorgehen darf.
14. Juli 2003 Der Weg ist das Ziel Noch liegen drei Wochen vor mir, 21 Tage, von denen ich mindestens 19 gehen werde. Stecke mal wieder in einer kleinen Krise, will ankommen. Dagmar hat mir eine Antwortmail der Gedenkstätte in Auschwitz vorgelesen. Im ersten Moment habe ich es gar nicht begriffen, erst später habe ich realisiert, dass das eine große Unterstützung für mein Projekt darstellt. Ich freue mich darüber. Und trotzdem spüre ich diese leichte Krise, den Wunsch, das Projekt zu beenden. Landschaftlich war der Weg traumhaft schön. Ich glaube, ich bin noch nie über mehrere Stunden mit einem derartig beeindruckenden Panoramablick gegangen. Im Süden die Alpen, davor die weiche Hügellandschaft dieser Gegend. Felder in unterschiedlichen Färbungen, Wälder, Dörfer, einzelne Höfe. Von der Kirche in Kollmitzberg aus sehe ich sogar die Donau. Neben einem Maisfeld sah ich eine alte Frau, die das Gras auf dem schmalen Streifen zur Straße hin zusammenrechte. Sie geht stark gebeugt. Im Näherkommen sehe ich, dass sie viel zu große Turnschuhe trägt. Es ist Mittagszeit und heiß in der Sonne. Ich begrüße sie und frage sie nach ihrem Alter. Sie ist 86. Und trotzdem würde sie hier in der Mittagshitze arbeiten. Man wird gesünder, wenn man sich bewegt. Ihr kleines, altes Gesicht lacht unter dem Kopftuch. Neben der Kirche steht in Neustadtl wieder einmal ein Kriegerdenkmal.
Die Toten des Ersten Weltkrieges sind noch Heldensöhne, die des Zweiten
werden nur namentlich nach Gemeinden getrennt genannt. Im Ersten Weltkrieg
gab es neben Neustadtl, Nabegg, Windpassing und Kleinwolfstein noch die
Gemeinde Judenhof. Im Zweiten Weltkrieg fehlt sie, dafür gibt es
nun die Gemeinde Berghof. In meinem Routenbuch halte ich die Orte fest, an denen ich die Steine ablege und neue aufnehme. Da sie aber nicht an exponierten Stellen liegen, sind sie längst nicht mehr auffindbar. Selbst ich würde sie, glaube ich, bereits fünf Minuten nach dem Ablegen nicht mehr identifizieren können. 15. Juli 2003 Zerlegen und Zusammensetzen Heute bin ich eine kurze Etappe gegangen, was mir aber gut tut, da ich mich körperlich etwas angegriffen fühle und es außerdem mittags ausgesprochen heiß wird, trotz des Windes, der ständig geht. Von Zeit zu Zeit denke ich über das Zerlegen und Neu-Zusammensetzen der Wörter dachau und auschwitz nach. Eine Art Lautgedicht, das allerdings noch gar keine Form hat.
Ich werde in Mauthausen den Stein aus Wallsee ablegen und
einen neuen nach Linz mitnehmen, in eine der Städte, die nach den
Plänen Hitlers eine Führerstadt werden sollte. In diesem Zusammenhang: Der letzte offizielle Auschwitzhäftling war Engelbert Marketsch, der am 18. Januar 1945 aus dem Konzentrationslager Mauthausen überstellt wurde und dem die Nummer 202499 eintätowiert wurde. Und ein großer Teil der Häftlinge wurde nach der Evakuierung von Auschwitz nach Mauthausen überstellt. (Evakuiert, was für ein unverfänglicher, fast positiver Begriff suggeriert er doch Rettung für das willkürliche Verschieben und damit massenhafte Töten von Menschen.) 16. Juli 2003 Gehen und Schreiben füllen meinen Tag Ich bin sehr früh losgegangen, da es im Laufe des Tages heiß wird. Bereits um 11 Uhr war ich in Pantaleon, habe erstmals die Zeitangabe im Jakobsweg-Buch deutlich unterschritten. In Pantaleon hatte ich von vorneherein eine längere Pause eingeplant, da ich bei einem Landgasthof vorbeischauen wollte. Vor Tagen als ich dort ein Zimmer reservieren wollte, musste der Besitzer mir absagen, da er ausgebucht war. Er bot mir an, mich nach Mauthausen zu fahren oder aber mir in anderer Weise zu helfen, sollte ich mit der Zimmersuche Probleme haben. Ein ausgesprochen nettes Angebot, wie ich fand. Deshalb wollte ich mich bei ihm persönlich dafür nochmals bedanken. Wir sprachen über meinen Gedenkweg. Er erzählte mir, in Mauthausen in der Gedenkstätte würde behauptet, dort seien Menschen vergast und verbrannt worden. Meines Wissens nach war Mauthausen ein Lager, in dem durch Arbeit vernichtet wurde. Kurz bevor ich zur Donaubrücke nach Mauthausen kam, standen entlang der Straße von Marksee nach Arthof Birken. Ich hatte das Gefühl, sie, wenn überhaupt, tagelang nur vereinzelt gesehen zu haben. Und hier, kurz vor Mauthausen, begleiten sie ein Stück meines Weges. Die Bäume, die, mit Auschwitz-Birkenau verbunden, für mich doch auch nach Dachau verweisen. Noch kein Wort habe ich verloren über die österreichischen
Buswartehäuschen, obwohl ich sie durchaus schon einige Male benutzt
habe. Es sind meist schöne, gepflegte kleine Gebäude, manchmal
aus Holz, manchmal aus Stein. Neben der Bank, die ich so schätze
und die hier eigentlich nie fehlt, haben sie manchmal seitlich Fenster,
vor denen auch schon mal Blumenkästen mit Geranien hängen. Die
Dächer sind meist mit Ziegeln gedeckt. 17. Juli 2003 Kleinmünchen und Neue Heimat Als ich heute morgen durch den Ortskern von Mauthausen ging,
hatte ich nicht den Eindruck, dass die Gedenkstätte hinter allgemeinen
Formulierungen versteckt werden soll. Überall weisen Schilder den
Weg. Auf einer Gedenktafel an der Nibelungenbrücke in Linz stand: Mit dem Überschreiten dieser Brücke endeten im Jahre 1945 die Schrecken der Vertreibung für Zehntausende Sudetendeutsche. Wer war der Initiator dieser Gedenktafel? Und warum ist es gerade diese Brücke, warum gerade Linz? Mit der heutigen Etappe verlasse ich den österreichischen
Jakobsweg. Ich werde das Buch mit seinen klaren Angaben vermissen, die
mir so wie heute geholfen haben, problemlos den Weg zu finden. Auch das
gedrungene Holzschild mit der Muschel verliere ich dadurch, das manchmal
ganz überraschend an einem Baum auftauchte. 18. Juli 2003 Auschwitz beschäftigt mich weiter Heute vor 5 Wochen bin ich in Oswiecim/Auschwitz angekommen. Ich habe das Gefühl lange unterwegs zu sein. Merke, dass ich einiges an Kraft und Ausdauer eingebüßt habe, ich nicht mehr allzu lange unterwegs sein kann. Bin gespannt, wie ich morgen wieder ins Gehen komme. Den Stein aus Mauthausen habe ich an der verschlossenen
schmalen Pforte des Jüdischen Friedhofs in Linz abgelegt. Zwischen
den Eisenstangen konnte ich hindurchfassen und einen neuen Stein aufnehmen. Nach wie vor beschäftigt mich Auschwitz weit mehr als Dachau. Ich denke mehr über den Holocaust nach, über den Versuch, die europäischen Juden zu ermorden, als an die anderen Verfolgten, die in den Konzentrationslagern gelitten haben und ermordet wurden. Dachau (auch Mauthausen) diente dem mörderischen System auf andere Art. 19. Juli 2003 Kontinuität des Unrechts Es ist wahnsinnig heiß. Warum konnten die Deutschen und die ÖsterreicherInnen
nach 1945 problemlos weiterleben, sich eilfertig integrieren in das System
der westlichen Demokratien? In der Passauer Ilzstadt gibt es eine Kirche, die in einem der Fenster den angeblichen Hostienfrevel der Juden der Stadt zeigt. Juden, die durch Hakennasen kenntlich gemacht werden (das gleiche Bildschema, das auch Der Stürmer des Julius Streicher benutzte), stechen mit Messern in geweihte Hostien. Der Vorwurf des Hostienfrevels führte dazu, dass die Passauer Juden aus der Stadt getrieben wurden. Unterhalb der Veste Niederhaus steht die Sühnekirche
(St. Salvator). Sie sühnt nicht das christliche Unrecht der Vertreibung,
sie wurde errichtet um den falschen Vorwurf des Hostienfrevels zu sühnen.
Bis heute steht das alles unkommentiert nebeneinander, niemanden scheint
es zu stören. 20. Juli 2003 Mein Gehen hat sich verändert Gestern habe ich, da ich beim Zahlen im Hotel etwas warten
musste, im Juni/Juli-Programm des Landestheater Linz gelesen. Sie spielen
ein Stück von George Tabori (Mutters Courage) und eines
von Sarah Kane (4.48 Psychose). Außerdem eine Eigenproduktion
die Händchen halten, Köpfchen senken und an Adolf Hitler
denken heißt. Heute hatte ich das Gefühl, dass sich mein Gehen verändert hat. Es ist ein großer Teil meines Alltags geworden. Es ist mittlerweile weder Last noch Vergnügen, auch wenn mir der Rücken weh tut oder ich wunderschöne Sonnenaufgänge erlebe. Es ist ein Tun geworden, das mich stetig voranbringt. Durchschnittlich gehe ich täglich zwischen 6 und 8 Stunden, seit mehr als 30 Tagen. Ich tue es, so wie wenn ich die Steine von Ort zu Ort trage, um die imaginäre Kette zu schaffen, die Auschwitz und Dachau miteinander verbinden. Das Ziel rückt immer mehr in den Blick. Aber es ist weniger das Ziel Dachau, als vielmehr das Ziel, nach Hause zu kommen. 21. Juli 2003 Jesus war Jude Gestern habe ich in Passau die beiden Kirchen aufgesucht, von denen ich bereits geschrieben habe. An der Kirche St. Salvator, unterhalb der Veste Oberhaus in der Ilzstadt gelegen, steht auf der Hinweistafel: Wahlfahrtskirche St. Salvator an Stelle der Synagoge erbaut, 1479 1570; Propstei 1501 1580. So lapidar kann Zerstörung und Vertreibung ausgedrückt werden. Geradezu unerträglich aber ist die Formulierung im
Kirchenführer zu St. Bartholomäus, in der das Kirchenfenster
gezeigt wird, das die angebliche Hostienschändung durch die Juden
darstellt. 1477 sollen in ihr (der Synagoge) Juden Hostien geschändet
haben, ... Sie stachen in die Hostien mit einem scharfen Messer, wobei
Blut herausfloß und das Gesicht ains antlcz erschien.
... Zwei Hostien aber warf man in einen brennenden (!sic) Backofen; da
flogen zwei Engel mit Tauben aus dem Feuer. 23. Juli 2003 Geistiger Ansporn Vor ein paar Tagen habe ich in mein Tagebuch geschrieben,
dass mir das Gehen mittlerweile weder Last noch Vergnügen ist. Heute
finde ich, dass das voreilig war. Ich musste heute an den Raum mit den Decken, dem schwarz
lackierten Heizkörper und dem Foto mit den Toten im Auschwitz-Museum
denken. Ich will ihn als Raum des Verlustes oder als Raum der Abwesenheit
bezeichnen. Es ist für mich ein stark emotionaler Raum. Vielleicht
wäre es gut und wichtig, in den Gedenkstätten neben der faktischen
Aufarbeitung mehr dieser emotionalen Räume zu schaffen, die eine
andere Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem Holocaust in den
Konzentrationslagern eröffnen würden. Auf dem Weg nach Eichendorf standen entlang der Straße wieder einmal Birken. Ich weiß nicht, ob ich sie für Tage nur aus den Augen verliere oder ob ich sie tagelang wirklich nicht zu Gesicht bekomme. Ich mag diese Bäume, obwohl sie für mich immer etwas Belastetes haben, immer ein Hinweis sind. Sicherlich während meiner Wanderung ein ganz besonderer und starker Hinweis. Vielleicht wollten sie mir heute zeigen, dass ich nun wirklich bald in Dachau sein werde. 24. Juli 2003 Raum für Erfahrungen Heute habe ich bewusst mehr auf die Bäume geachtet. Es scheint mir wirklich so zu sein, dass ich zeitweise (vor allem) die Birken vergesse. Ich sah sie heute nämlich immer wieder, kann mir also schlecht vorstellen, dass es die letzten Tage anders gewesen sein sollte. Auch einzelne Pappeln sah ich in einiger Entfernung. Habe wieder an den Raum des Verlustes in Auschwitz gedacht.
Mir fielen die Räume der Stille (Leere), die Voids im Jüdischen
Museum in Berlin ein. Oder auch der Holocaust-Turm. Dies sind für
mich ebenfalls emotionale Räume, in denen ich andere Wahrnehmungen
haben kann, in denen ich andere Erfahrungen machen kann. Ich hoffe in drei Tagen in Dachau anzukommen. Es werden drei anstrengende Tage werden. 25. Juli 2003 Mahnung für den Frieden Ich bin sehr aufgeregt, unruhig in mir. Heute habe ich während der Wanderung die Sandalen, die ich immer außen am Rucksack befestigt hatte, verloren. Nach all den toten Helden, den auf dem Feld der Ehre für das Vaterland Gefallenen in Velden der wohltuend andere Akzent: am Hauptplatz steht ein Mahnmal für den Frieden, das an die Kriege 1870/71, 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945 erinnert. Während der letzten Tage musste ich öfter daran denken, dass in den Ländern, durch die ich gegangen bin, vor 60 Jahren Krieg herrschte, Menschen in Konzentrationslager gebracht und ermordet wurden. Es scheint so weit weg, während ich mich durch die Natur bewege. Aber es ist nicht wirklich weit weg, die Spuren sind noch mehr als deutlich. 26. Juli 2003 Dachau, sehr nahe Der letzte Zwischenhalt ist erreicht: Erding. Ich habe noch weiter über die emotionalen Räume nachgedacht. Mir ist noch der E.T.A.-Hoffmann-Garten im Berliner Jüdischen Museum eingefallen. Dieses Schräge, Stürzende, das einen aus dem Gleichgewicht bringt und damit verunsichert. So wie Kargheit und Stille nach innen greifen, so bringt einen auch die Schieflage aus dem Gleichgewicht. Mir scheint es wichtig und gut, immer wieder das Gleichgewicht zu verlieren, die Sicherheit als nur vermeintlich zu erkennen. Ich denke, dass es dringend notwendig ist, sich intensive Gedanken zu machen, wie können/sollen Gedenkstätten für nachfolgende Generationen aussehen. Keinesfalls sollten sie zu Events werden, zu Geisterbahnen des Holocaust. In Zeiten fortschreitender Medialisierung kann gerade der Weg in die andere Richtung Erwartungshaltungen enttäuschen und damit eventuell neue Erkenntniswege eröffnen. Ich bin Dachau sehr nahe gekommen. 27. Juli 2003 Ich bin angekommen Ich bin angekommen, habe den letzten Stein in der Gedenkstätte
abgelegt. Ich bin sehr glücklich darüber, es geschafft zu haben,
das Projekt abschließen zu können. Mein Projekt ist keine Idee mehr (Zukunft), keine Realität (Gegenwart), es ist beendet (Vergangenheit).
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Schwarz Kartografie: Astrid
Fischer-Leitl Webmaster Bernd Hüller Offset-Service
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